28. Juli 2023
Update zur Ruhezeit
Die EuGH-Entscheidung (Rs C-477/21) vom 02.03.2023 hat sich eingehend mit den täglichen und wöchentlichen Dienstnehmerruhezeiten auseinandergesetzt. Dieses Urteil hat auch in Österreich viele Fragen aufgeworfen, auf welche wir nachstehend für Sie eingehen.
1. Der Sachverhalt
Der ungarische Gerichtshof in Miskolc sollte über die Klage eines Lokomotivführers gegen seinen Dienstgeber, die Eisenbahngesellschaft MÁV-START, entscheiden. Der Lokomotivführer sah sich dadurch benachteiligt, dass ihm die in der europäischen Arbeitszeitrichtlinie vorgesehene tägliche Ruhezeit von 11 Stunden nicht gewährt wurde, wenn diese einer wöchentlichen Ruhezeit oder einer Urlaubszeit vorausging oder hieran anschloss.
Der Dienstgeber begründete seine betriebliche Praxis mit
a) der tarifvertraglichen Wochenruhezeit von zumindest 42 Stunden, wodurch der Dienstnehmer bereits eine längere Erholungsphase genießt, als dies die europäische Arbeitszeitrichtlinie vorsieht.
b) Darüber hinaus sei eine tägliche Ruhezeit nur zwischen 2 aufeinanderfolgenden Arbeitsperioden zu gewähren, nicht jedoch dann, wenn auf eine Arbeitsperiode Urlaub oder eine wöchentliche Ruhezeit folge.
2. Die Entscheidung
In seiner Entscheidung kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass
a) es sich bei der täglichen und wöchentlichen Ruhezeit um 2 getrennt zu betrachtende Dienstnehmerrechtsansprüche handelt,
b) die in unterschiedlichen Artikeln der Arbeitszeitrichtlinie geregelt sind und
c) daher unterschiedliche Ziele verfolgen.
Das Ziel der zusammenhängenden täglichen Arbeitsruhe ist es, dem Dienstnehmer zu ermöglichen, dass er sich aus der Arbeitsumgebung zurückziehen kann. Außerdem dient die wöchentliche Ruhezeit dazu, dem Dienstnehmer die Gelegenheit zu bieten, sich pro Siebentageszeitraum für 24 Stunden auszuruhen.
Aus diesen Gründen hat der Dienstnehmer Anspruch darauf, beide Ruhezeiten, die tägliche und die wöchentliche, gesondert in Anspruch zu nehmen bzw vom Dienstgeber gewährt zu erhalten.
Da die Arbeitszeitrichtlinie Mindestvorschriften vorschreibt, stehe es den Mitgliedstaaten frei, günstigere Arbeitsvorschriften für Dienstnehmer festzulegen.
Ein „gleichzeitiger“ Konsum der täglichen und der wöchentlichen Arbeitsruhe ist laut EuGH-Ansicht nicht zulässig.
3. Rechtslage in Österreich
Gemäß § 12 Abs 1 AZG haben Dienstnehmer, nachdem die Tagesarbeitszeit beendet wurde, Anspruch auf eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens 11 Stunden.
§ 3 ARG verlangt in jeder Kalenderwoche eine ununterbrochene Ruhezeit von 36 Stunden, in die der Sonntag zu fallen hat (Wochenendruhe). Ausnahmen sind in bestimmten Fällen möglich.
Berücksichtigt man die aktuelle EuGH-Entscheidung, müsste eine richtlinienkonforme Interpretation zu dem Ergebnis führen, dass die in Österreich vorgesehene Wochenendruhe erst angetreten werden kann, wenn zuvor die tägliche Arbeitsruhe von 11 Stunden konsumiert wurde.
Dem Dienstnehmer ist daher eine ununterbrochene Ruhephase von insgesamt 47 Stunden (= 11 Stunden [tägliche Mindestruhezeit] + 36 Stunden [= Mindestwochenendruhe]) zu gewähren.
Zur Veranschaulichung:
Der Dienstnehmer arbeitet am Samstag bis 13:00 Uhr, danach beginnt die 11-stündige tägliche Ruhezeit, die am Samstag um 24:00 Uhr endet. Erst danach beginnt laut dem EuGH-Urteil die 36-stündige Wochenendruhe. Diese endet am Montag um 12:00 Uhr, erst danach darf der Dienstnehmer wieder arbeiten.
4. Mögliche Auswirkungen auf die Praxis
Für Betriebe, in denen die klassische 5-Tage-Woche von Montag bis Freitag gilt, ändert sich durch die EuGH-Entscheidung nichts.
In Betrieben mit Samstagsarbeit (zB Gastronomie, Hotellerie, Handel etc) ergeben sich aufgrund der EuGH-Entscheidung Probleme. Das österreichische Arbeitszeit- und -ruhesystem entspricht nicht den Vorgaben der EuGH-Entscheidung.
Da die Wochenendruhe an Samstagen spätestens um 13:00 Uhr bzw in Ausnahmefällen um 15:00 Uhr oder nach Ende der Öffnungszeiten beginnt, verbleibt kein ausreichendes Zeitfenster dafür, dass die vorangegangene Tagesruhezeit gesondert konsumiert werden kann.
Unternehmen stehen daher vor der Frage, ob Dienst- und Schichtpläne an die Rechtsauslegung des EuGH anzupassen sind. Dazu gibt es derzeit verschiedenste Lehrmeinungen. Ein Teil der Lehre sieht mangels Strafbarkeit keinen konkreten Handlungsbedarf vor, ein anderer spricht sich bei Samstagsarbeit nach 09:00 Uhr dafür aus, dass Ersatzruhe gewährt werden müsste.
Nachdem allerdings die geltenden Strafbestimmungen zudem bloß Strafen vorsehen, wenn österreichisches Recht verletzt wurde, sind Strafen vorerst unwahrscheinlich.
Es bleibt daher abzuwarten, ob der österreichische Gesetzgeber zukünftig für Ruhe sorgt, etwa indem er die wöchentlichen Ruhezeiten des ARG an jene der Arbeitszeitrichtlinie angleicht, oder es dabei belässt, dass die – im österreichischen Recht Probleme auslösende – EuGH-Entscheidung uneingeschränkt anzuwenden ist.
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